Orchestra (3(3picc.A-fl.B-fl).4.3.0 - 4.3.3.2 - perc(5) - 2pno - str: 8.8.8.8.8.8) SKU: BR.PB-5435
Composed by Helmut Lachenmann. Orchestra; Softcover. Partitur-Bibliothek (Score Library). Music post-1945; New music (post-2000). Full score. Composed 2003/04. 108 pages. Duration 25'. Breitkopf and Haertel #PB 5435. Published by Breitkopf and Haertel (BR.PB-5435). ISBN 9790004212820. 11.5 x 16.5 inches.
Meine eigene neue Orchesterkomposition hat den Titel ,,SCHREIBEN. Die praktische Aktion des Schreibens, als mechanisches Einwirken per Hand, Stift, Pinsel, auf eine Flache (Papier, Pergament, Stein etc.), ausgelost und gesteuert von einem kommunikativen Bedurfnis und, bei aller Spontaneitat, beherrscht durch die Regeln von Schrift und Sprache, ist fur mich einer der geheimnisvollsten Vorgange im zwischenmenschlichen Alltag, bei dem menschlicher Geist und tote Materie einander begegnen: Gedanken bzw. Gedachtes werden auf einer Flache - Papier, Pergament, Stein - festgehalten, ihr sozusagen anvertraut. Und auf diesem Umweg uber Sprache, Schrift und Gravur begegnen sie dem Geist des lesenden oder entziffernden Mitmenschen. Als Komponist aber frage ich: gibt es auch einen anderen Kausalitatszusammenhang, gibt es z. B. ein ,,autonomes Schreiben, eine sinn-freie Zeichengebung, durch entfesselte, losgelassene Fortbewegung der schreibenden Hand, wo der Schreibende seinem eigenen Schreiben nur noch staunend zusieht? Werden nicht in Japan Bilder, auch ,,abstrakte, geschrieben??? (In einem Underground-Film der 70er-Jahre uber den jungen Mozart sieht sich der Zuschauer versetzt in ein Zimmer eines italienischen Gasthauses, in dem der junge durchreisende Mozart am Tisch eilig die Rezitative einer seiner italienischen Opern zu Papier bringt. Mehr als eine Viertelstunde lang sind wir dabei, horen nicht die entstehende Musik, sondern das nervose Kratzen der Feder auf dem groben Notenpapier in nachmittaglicher Stille - nur der gleichmassige Pendelschlag der Wanduhr ist noch zu horen -, und wir erleben diese sekundare Klangwelt kaum weniger intensiv als nachher andere Horer die dabei stumm entstehende Musik.) Das Orchester in meinem Stuck ,,schreibt. Es fugt Strich zu Strich, versteht sich selbst als eine Art vielfaltiges ,,Schreib-Gerat. Wir als Horer lesen nicht das ,,Geschriebene, aber wir horen den Vorgang des Schreibens, den Bogenstrich, die Bewegung des scharrenden Holzstabs auf Fell oder Tamtam, und wir beobachten dessen Imitation bzw. Transformation durch - zeitweise auch tonlos - sich zu linearen Gestalten verbindende Blasinstrumente als eine Art klingender Schreib-Zeremonie. Es ergibt sich eine Musik, die gelegentlich ihren gedanklichen Ausgangspunkt vergisst und sich als autonome Klang-Situation fortentwickelt und verwandelt, und die schliesslich im hochsten Register eine Art ,,Kantilene be-schreibt. Wer das deutsche Wort ,,Schreiben (engl. ,,to write) schreibt, der schreibt dabei auch unweigerlich das Wort ,,Schrei (engl. ,,shout), und er schreibt auch das Wort ,,reiben (engl. ,,to rub). So emotional der erste Begriff gedacht werden kann, so nuchtern-praktisch ist der zweite. Von beiden Aspekten, samt ihrer Gegensatzlichkeit, ist mein Stuck gepragt. (Helmut Lachenmann, 2003)
World premiere: Tokyo/Japan, December 4, 2003.